Wer oder was bin ich eigentlich?

Diese und ähnliche Fragen stelle ich mir sehr häufig.

In diesem Blogpost möchte ich einmal versuchen, sie einigermaßen zu beantworten oder vielleicht auch nur für mich selbst ein bißchen mehr Klarheit zu bekommen.

Schon als Kind war ich nicht wie meine Altersgenossen. Ich spielte gern allein, mit Autos, auf Traktoren, in Kuh-, Schweine- und Pferdeställen. Ich fuhr Fahrrad, kletterte im Wald herum, liebte weite Kleidung und machte mich gern schmutzig. Zudem verbrachte ich viele Stunden mit einem Buch in der Hand und lies mich in andere Welten versetzen.

Ich stellte mir sehr oft vor, ich sei nicht ich, sondern jemand anderes. Ein starker Mann, ein starkes Tier, eine starke Frau,… In meinen Gedanken war ich immer älter und stärker. Hatte alles, was ich mir wünschte und war glücklich.

In der Schulzeit blieb ich oft allein, meine Noten waren gut, mein Verhältnis zu Mitschülern nicht. Dadurch, dass ich sehr ruhig war, wurde ich schnell zum Aussenseiter. Ich interessierte mich einfach nicht für viele der Dinge, für die sich die Anderen begeisterten. Meine Welt waren Bücher und Geschichten, die sich in meiner Fantasie abspielten. Als Teenager entdecke ich dann den Computer für mich, chattete mit Gleichgesinnten und brachte mir bei, Websites zu basteln. Zudem sparte ich mir meine erste eigene analoge Spiegelreflexkamera (gebraucht, eBay) zusammen und eignete mir mein erstes Fotografie-Wissen an.

Mit Beginn der 7. Klasse wechselte ich auf’s Gymnasium. Die folgenden Jahre sollten die Schlimmsten meines Lebens werden. Ich wurde vom Aussenseiter zum Mobbing-Opfer. Lehrer und Rektor ignorierten die Hilfeschreie von meiner Mutter und mir (Zitat: „So etwas gibt es an unserer Schule/in meiner Klasse nicht!“). Meine Noten sowie mein gesundheitlicher Zustand verschlechterten sich rapide und ich verlies das Gymnasium mit einem Hauptschulabschluss. Während der Zeit auf dieser Schule versuchte ich, mich anzupassen. Dazuzugehören. Ich versuchte, mich Mädchenhafter zu kleiden und mich für Dinge wie Make-Up und Klamotten zu interessieren. Ich probierte sogar, eine heterosexuelle Beziehung zu führen. Dies klappte natürlich nicht. Egal, wie sehr ich versuchte mich zu ändern, ich war immer noch ich: Der Bücherwurm. Computer-Nerd. Pferdefreak. Fotografie-Junkie. Am Wohlsten fühlte ich mich allein zu Hause oder im Stall bei den Pferden.

Wenn ich als Kleinkind schon sehr unsicher war, so begannen meine extremen psychischen Probleme dann richtig in den Jugendjahren. Ich entwickelte eine soziale Phobie, verletzte mich selbst, war depressiv und hatte Suizidgedanken. Die Einzigen, die mich am Leben hielten, waren mein Pferd und meine beste Freundin J., die ich glücklicherweise zu dieser Zeit kennenlernte und die meine Interessen und Eigenheiten teilte und verstand.

Mit 11 bekam ich meine Periode und Brüste. Ich fing an, meinen Körper zu hassen, trug weite T-Shirts in dem Versuch, die Weiblichkeit zu verstecken. Mit 15/16 lies ich mir die Haare sehr kurz schneiden und dunkel färben. Mit 17 vertraute ich meiner Mutter meine psychischen Probleme an. Mit 18 begann ich meine erste ambulante Therapie. Zudem probierte ich erneut mein Glück in Sachen Beziehung: mit K., einem gleichaltrigen Mädel aus Köln. Ich outete mich als lesbisch. Ich war eine „Butch“, kurze Haare, männliche Kleidung, benutzte Männer Shampoo, Duschgel, Deo. Die Beziehung zu K. zerbrach relativ schnell, jedoch lebte ich viele Jahre weiter als homosexuell.

In meinen 20ern lernte ich, dass es in Ordnung ist, introvertiert zu sein und sich eher für Bücher als für Parties zu interessieren. Meinen Körper jedoch mochte ich weiterhin nicht. Mit Ende 20 informierte ich mich dann erstmalig über das Thema ‚Transgender‘ und lernte, dass es bei den Geschlechtern nicht nur strikt männlich und weiblich gibt, sondern beispielsweise auch agender. Sehr interessant, dachte ich und schloss die Website.

Ein wenig später stufte ich mich dann selbst als asexuell und aromantisch ein, da ich kein Interesse an sexuellen Kontakten oder romantischen Beziehungen habe. Platonische Liebe kenne ich, romantische jedoch nicht. Das Thema geschlechtliche Identität lies ich weiterhin links liegen. Es verging wieder einige Zeit bis ich das Thema erneut in mir aufkommen spürte. Diesmal erlaubte ich mir den Gedanken eben nicht 100% weiblich zu sein, sondern womöglich eher maskuliner. Ich kaufte mir mehr und mehr maskuline Kleidung, unter anderem Krawatten und Boxershorts und es fühlte sich gut und richtig an.

Mit Anfang 30 erlaubte ich dann endlich dem männlichen Teil in mir einen Platz. Er nannte sich Sam und war froh, endlich nicht mehr verdrängt zu werden. Bisher wissen nicht viele Leute, dass Sam existiert und was seine Wünsche sind, da er sich oft nicht traut, sich vorzustellen, aber das ändert sich bestimmt noch. Sam leidet unter Gender Dysphoria, insbesondere wegen der Oberweite (er trägt einen Chest Binder) und der Periode (diese Zeit des Monats ist für ihn die absolute Hölle) und hofft, dass er sich irgendwann eine OP leisten kann, die ihm diese Dinge eine einige erleichtert.

Auf jeden Fall ist er froh, dass er nun so sein darf, wie er ist und nicht immer nur versteckt sein muss.

Herzlich Willkommen, Sam. 🙂

I’d rather be hated for who I am than loved for who I am not.