In meiner letzten Tanztherapie-Sitzung erzählte ich Frau E., dass ich schon seit meiner Kindheit ein Problem mit dem Thema „Essen“ habe – entweder esse ich gar nichts bzw. erlaube mir nur 1-2 Lebensmittel und maximal 500 kcl am Tag oder ich habe richtige Fressanfälle und stopfe wahllos alles in mich hinein, was sich finden lässt, vorzugsweise Ungesundes wie Schokolade.

Zur Zeit befinde ich mich wieder in einer stark kontrollierten Phase: Ich führe ein Ernährungstagebuch, zähle strikt Kalorien und erlaube mir nur wenige Lebensmittel.

Ich erzählte also Frau E. von dem Essproblem und sie hatte die glorreiche Idee, die nächste Therapiesitzung zu einem Außentermin zu machen und gemeinsam Essen zu gehen. Welch ein Graus! Diese Idee triggerte nicht nur mein Essproblem, sondern gleichzeitig meine soziale Phobie sowie meine Agoraphobie, was Frau E. natürlich gefiel. Exposition! Wir machten einen Termin aus und suchten ein Restaurant aus. Die Abmachung war: „Wer zuerst da ist, sucht einen Platz aus.“

In der darauffolgenden Woche lief mein Gehirn auf Hochtouren:

„Hoffentlich bin ich nicht als Erste da und muss alleine ins Restaurant und einen Platz aussuchen!“

„Hoffentlich ist sie nicht als Erste da und ich muss sie im Restaurant suchen!“

„Oh Gott, ich muss etwas essen, von dem ich die genaue Kalorienzahl nicht kenne!“

„Hilfe, ich muss bestellen. Und bezahlen. Und essen in der Öffentlichkeit!“

„Was ist, wenn ich das Restaurant nicht finde? Oder dort nicht parken kann?“

Diese und andere Gedanken schossen mir immer wieder durch den Kopf. Am Schlimmsten war die Vorstellung, nicht genau zu wissen, wie viele Kalorien ich zu mir nehmen werde. Ich schaffte es, die Gedanken manchmal zu verdrängen, aber sie schoben sich immer wieder an die Oberfläche.

Als ich heute morgen erwachte, war mir sofort klar, dass es heute soweit war: Freitag, der 13. und der Termin mit Frau E. in unserem gewählten Restaurant. Die abgemachte Uhrzeit war 12 Uhr; ich war natürlich mal wieder viel zu früh da – wie immer. Um 11:30 Uhr parkte ich somit mein Auto, erkundete die Gegend und suchte den Eingang zum Restaurant. Da es noch so früh war, spazierte ich noch ein bisschen herum und hatte vor Aufregung einen kleinen Rückfall und aß Schokolade, die ich im Supermarkt nebenan gekauft hatte. Ab 11:50Uhr fing ich an, die Speisekarte, die glücklicherweise draussen angepinnt war, zu studieren. Die Aufregung wuchs und wuchs, mein Blick wechselte angespannt zwischen der Speisekarte, meinem Handy und der Umgebung hin und her. Als Frau E. um 11:58Uhr immer noch nicht da war, atmete ich tief durch und betrat alleine das Restaurant. Nach einer peinlichen Frage bei einem Mitarbeiter nach einem Tisch für zwei, die er mit „freie Platzwahl“ beantwortete, suchte ich mir einen Platz am Fenster aus, von dem ich alles gut im Blick hatte. Es dauerte nur wenige Minuten bis Frau E. strahlend zur Tür herein spazierte und mich begrüßte.

Sie erzählte mir, dass sie mich schon gesehen habe und froh sei, dass ich mich gewagt hätte, das Restaurant zu betreten und einen Tisch auszusuchen. Nach einem kurzen Gespräch kamen die Speisekarten und kurz darauf bestellten wir unser Essen. Ich nahm einen Salat Caprese und einen kleinen Orangensaft, Frau E. entschied sich für ein vegetarisches, indisches Gericht. Nach kurzer Wartezeit kam unser Essen und ich vergaß völlig, über die Kalorien nachzudenken. Wir aßen und redeten über meine Ängste und darüber, wie ich mir durch meine Zwänge und auch die Angst oft selbst im Weg stehe. Sie sagte mir auch, dass es in Ordnung sei, ein Einzelgänger zu sein und dass Akzeptanz ein sehr wichtiger Therapiebestandteil sei. Wir unterhielten uns zudem über meine beste Freundin und unser anstehendes Jubiläum.

Ich durfte sogar Frau E.’s Essen probieren: Reis, Kichererbsen, Kartoffeln, Gemüse – alles indisch gewürzt und zubereitet. Sehr lecker! Ich habe mich bemüht, langsam und in kleinen Bissen zu essen und alles geschafft. Frau E. fragte zwischendurch immer wieder, wie es wäre und wie gross der Berg war, den ich überwinden musste.

Nach knapp 2 Stunden (Die Zeit verging wie im Flug!) bekam ich den Auftrag, den Kellner herbei zu winken. Nochmalige Aufregung! Aber ich schaffte es und wir bezahlten – getrennt. Es war alles gar nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Nun bin ich wieder zu Hause, und bin froh, dass ich diese Sitzung so gut gemeistert habe. Ja, ich hatte Angst. Ziemlich Große sogar. Und ich hatte einen Schoko-Rückfall. Aber ich habe sie überwunden und am Ende war es sogar recht nett – sehr anstrengend, aber nett. Wieder etwas geschafft!

Die einzige Angst, die mir noch bleibt, ist die Anzeige meiner Waage morgen früh. Ich hoffe, ich habe dadurch nicht wieder zugenommen. Aber man darf sich doch auch einmal etwas gönnen, oder?